Saumäßiges Glück
Produzent im Portrait: Allgäuer Eichelschwein
So schön kann rumsauen sein. Während die Jugendlichen noch vor ein paar Jahren hier oben am Kalvarienberg Dosenbier knackten und die Getränkebehälter achtlos im Unterholz zurückließen, knacken die Jugendlichen, die heute von der Anhöhe auf Immenstadt hinunterblicken, Eicheln, und das in Massen. Lolita, Sonja, Pumuckl, Quasimodo und die übrigen Mitglieder der Allgäuer Eichelschwein-Clique haben das Revier der Zweibeiner übernommen. Und sie haben der Landschaft ihren Rüssel aufgedrückt. Lange litten die Jahrhunderte alten Eichen (vermutlich handelt es sich um den größten zusammenhängenden Eichenbestand im Allgäu) unter Verbuschung. Damit ist seit dem Einzug der borstigen Vierbeiner Schluss. Mit ihren Schnauzen haben die Sauen den Boden gründlich umgepflügt. Das Unterholz ist verschwunden. Tiere und Pflanzen sind eine symbiotische Beziehung eingegangen – dank Reinhard Adelgoss, der das Labor gegen die Natur als Arbeitsplatz eintauscht.
„Das Fleisch ist in der Pfanne nicht zusammengeschrumpft, wie von Tieren aus beengter Stallhaltung.
Reinhard Adelgoss
So muss eine Sau schmecken, habe ich mir gedacht.“
Seinen Job als Zahntechniker will er bald komplett an den Nagel hängen. „Das ist ein Stressberuf. Ich brauche jetzt einfach mehr Zeit für meine Schweine.“ Adelgoss ist ein kerniger, großgewachsener Mann mit einem jugendhaften, wettergebräunten Gesicht. Breite Brust und astdicke Arme vermitteln glaubhaft, dass er Futter und Gerät für das Gehege viele Meter durch den Schnee von Hand hinaufziehen muss. Kurz vor Weihnachten hat der Winter zwar fluchtartig das Land verlassen, doch Eisreste und Schlamm machen die wenigen Zugänge mit dem Auto in dieser Jahreszeit trotzdem unpassierbar. Das dicke Karohemd hat er am Hals weit geöffnet. Auf dem Kopf trägt er eine abgewetzte Schirmkappe mit der Aufschrift „Change your perspective“.
Als Wendepunkt in seiner Karriere gilt ein Halssteak aus der Produktion der Hermannsdorfer Landwerkstätten. „Das Fleisch ist in der Pfanne nicht zusammengeschrumpft, wie von Tieren aus beengter Stallhaltung. So muss eine Sau schmecken, habe ich mir gedacht.“ Anfang der Nullerjahre war das. Dieses Geschmackserlebnis ließ den Oberallgäuer nicht mehr los.
Er versuchte, seiner bäuerlichen Verwandtschaft die naturnahe Haltung von Schweinen näher zu bringen. Ohne Erfolg. Zu eingefahren waren die Bräuche, zu leicht verdient das Geld mit den üblichen Methoden. „Da habe ich beschlossen, die Sache selber in die Hand zu nehmen“. Und so kam eines zum anderen. Der Förster von Immenstadt habe ihn schließlich auf die Idee gebracht, den Kalvarienberg mit seinen Eichenbäumen für die Sauen zu nutzen. Doch was vordergründig so klar auf der Hand lag, war bürokratisch so weit entfernt. Der Ursprung seiner Odyssee, die mit dem Traum einer naturverbundenen Schweinehaltung begann, lässt sich mit einem zentralen Begriff beschreiben: Schweinefreilandhygieneverordnung. Das Kompositum ist nicht nur ein schöner Zungenbrecher, sondern eine echte Herausforderung für Menschen, die die Dinge verändern, Neues wagen wollen. Nach jahrelangem Tauziehen zwischen Veterinärsamt, kommunaler Politik und Unterstützern, die Adelgoss dabei halfen, ein etwa ein Kilometer langes Zaunsystem zu installieren, um die Tiere vor der afrikanischen Schweinepest zu schützen, gelang 2017 der Durchbruch.
Mit 8 Schweinen begann die Erfolgsgeschichte der Allgäuer Eichelschweine. Seither ist die Rotte, bestehend aus einer Mischung alter Schweinerassen wie Duroc, Maganlica und Iberico, auf 15 Tiere angewachsen. In der „Kinderstube“, einem vom Rest der Bande abgesteckten Bereich, bestürmen mehr als ein halbes Dutzend Ferkel ihre Mutter, die sich bereitwillig zum Säugen auf die Seite legt. Insgesamt stehen den Tieren drei Hektar hügelige Waldlandschaft zur Verfügung. Von Oktober bis in den Winter ernähren sie sich fast ausschließlich von den Früchten der Bäume. Den Rest des Jahres durchwühlen sie den Waldboden nach Futter. Als Ergänzung gibt es Heu und Getreide in Bioqualität. Schlachtreif sind die Sauen nach zwei Jahren. Für Adelgoss ist die Schlachtung der kritischste Teil der Arbeit. Schlachtung mit Achtung ist sein Motto. Alles soll für die Tiere so stressfrei wie möglich vonstattengehen. Kurze Wege, vertrauensvolle Partner. Darauf legt er viel Wert. Das Ergebnis lässt sich schmecken. Seine Produkte, egal ob Presssack, Leberwurst, feine Rillette, erzielen regelmäßig Bestnoten. Das Königsprodukt ist aber der Schinken. Auf Verköstigungen wird das fein marmorierte Fleisch von Kennern oft schon in einem Atemzug mit Erzeugnissen aus Spanien und anderen Hochburgen der Schinkenkunst genannt. Derzeit verkauft Adelgoss nur an Privatpersonen. Seine WhatsApp-Gruppe umfasst 90 Kontakte, Tendenz steigend. Über Schlachttermine informiert er auf seiner Website. Natürlich sei die Schweinhaltung auch harte Arbeit, dafür aber in der Natur. In Pausen auf einem Stuhl unter einer der altehrwürdigen Eichen zu sitzen, mit Blick über die Rücken seiner Sauen auf die Allgäuer Bergkulisse: „einfach unbezahlbar“. Dass für Adelgoss nicht der Profit im Vordergrund steht, sondern die Leidenschaft, erzählt die Geschichte der ältesten Sau im Gehege. „Schnitzel“ gehört zur Gründergeneration. Der 300-Kilobrocken ist acht Jahre alt und unbestritten die Gallionsfigur auf dem Platz. Und das darf sie bis an ihr natürliches Lebensende auch bleiben.
Sie hat zwei Schlachtversuche überlebt, weil sie ihre Artgenossen nie an den sogenannten Henkersbrei herangelassen hatte. Die köstliche Pampe wird den Tieren im Hänger serviert, in dem sie zum Schlachthaus gefahren werden. Schnitzel jedoch hat alle anderen Sauen immer wieder aus dem Hänger vertrieben, um sich den Schmaus allein einzuverleiben. Weil sich aber der Transport nur einer einzelnen Sau nicht lohnt, musste die Fahrt zum Schlachter zweimal abgebrochen werden, und die Leitsau kletterte jedes Mal satt und zufrieden wieder aus dem Gefährt heraus. „Zum Glück“, wie ihr Meister befindet. „Im Nachhinein bin ich froh, dass Schnitzel bis heute unter uns weilt.“